Je grüner, desto nuklearer

    Elektrifizierung und Energieeffizienz spielen für die Internationale Energieagentur (IEA) der OECD die zentrale Rolle bei der Reduktion des CO2-Ausstosses. Einem beschleunigten weltweiten Ausbau der Kernenergie stehen derzeit vor allem politische Widerstände im Weg.

    (Quelle: IEA, World Energy Outlook 2021) Entwicklung der Kernkraft in drei Szenarien

    Anders beim forcierten Ausbau der Stromproduktion aus Wind und Sonne, beim dazu nötigen Ausbau der Stromnetze und bei der massiven Zunahme der E-Mobilität: Hier dürften die nötigen Rohstoffe knapp und damit teuer werden. Diese Warnung findet sich im «World Energy Outlook 2021» der IEA.

    Die Szenarien der IEA gehen davon aus, dass die Weltbevölkerung bis 2050 um weitere zwei Milliarden Menschen zunehmen dürfte. Vor diesem Hintergrund werden im «World Energy Outlook 2021» folgende drei Szenarien betrachtet:

    «Nachhaltige Entwicklung»: Netto-Null-Treibhausgasemissionen bis 2050. 

    «Angekündigte Politiken»: Alle weltweit angekündigten Verpflichtungen werden vollständig umgesetzt. Bis 2050 gehen die CO2-Emissionen um 40% zurück, wobei der Stromsektor mit Abstand den grössten Beitrag liefert.

    «Heutige Politiken»: Die Länder setzen ihre bereits beschlossenen Politiken fort. Die laufend erreichten Einsparungen an CO2 werden durch zusätzliche Emissionen wettgemacht, so dass insgesamt keine Reduktion eintritt.

    Kernenergie: Verdoppelung bis 2050?
    Der Ausbau der Kernenergie in den kommenden zehn Jahren ist grössenteils durch die derzeit in Bau stehenden Anlagen (rund 60 GW) vorgegeben, schreibt die IEA. Da jedoch China, Südkorea und Russland neue Werke in fünf bis sieben Jahren bauen können, könnten bis 2030 weitere Projekte fertiggestellt werden. Nach 2030 gibt es konkrete Pläne für über 100 GW.

    Das «grünste» Szenario «Nachhaltige Entwicklung» rechnet mit der Verdoppelung der heutigen nuklearen Produktionskapazität bis 2050, insbesondere durch einen massiven Ausbau in den Schwellen- und Entwicklungsländern.

    Grössere Unsicherheit herrscht bei den Ausserbetriebnahmen bestehender Reaktoren. Zahlreiche ältere Anlagen in Europa, Japan und den USA benötigen für die Verlängerung ihrer Betriebsdauer zusätzliche Investitionen oder sogar neue Zulassungen. Im Szenario «Heutige Politiken» werden bis 2030 über 65 GW (23%) des heutigen Reaktorparks vom Netz genommen. Im Szenario «Angekündigte Politiken» werden 50 GW vom Netz genommen.

    Rohstoffrisiken bei den neuen Erneuerbaren
    In allen Szenarien vergrössert sich der weltweite Produktionsanteil des volatilen Wind- und Solarstroms von heute unter 10% auf 40 bis 70%, und regional noch mehr. Das Szenario «Nachhaltige Entwicklung» rechnet unter anderem mit 240 Mio. Fotovoltaik-Systemen auf Dächern und 1,6 Mrd. Elektrofahrzeugen.

    Das dafür erforderliche flexible Energiesystem benötigt robuste Stromnetze, Batteriespeicher und jederzeit abrufbare Stromquellen wie Wasserkraft, Geothermie oder Biomasse sowie kleine Modulare Reaktoren oder Kraftwerke, die mit Ammoniak (NH3) bzw. Wasserstoff befeuert werden.

    Windkraft und Fotovoltaik gelten oft als unabhängig von der Geopolitik. Die IEA weist aber darauf hin, dass die Lieferketten durchaus Risiken enthalten. Besondere Sorgen bereitet die Versorgung mit mineralischen Rohstoffen wie Kobalt, Mangan, Lithium, Nickel und Kupfer.

    Fotovoltaik, Windparks und Elektrofahrzeuge benötigen deutlich mehr solcher Rohstoffe als ihre fossil betriebenen Gegenstücke. Der erwünschte schnelle Ausbau dieser Technologien wird daher die Nachfrage massiv steigern.

    Zudem sind die Lagerstätten heute auf viel weniger Länder verteilt als beispielsweise beim Erdöl und Erdgas. Im Szenario «Heutige Politiken» steigt der Bedarf an kritischen Rohstoffen bis 2050 um fast das Dreifache. 

    Im nachhaltigen Szenario ist sogar die sechsfache Menge nötig. Bei der Betrachtung der einzelnen Sektoren zeigt sich, dass beispielsweise E-Fahrzeuge und Batterien künftig bis zu 50-mal mehr kritische Ressourcen benötigen als heute und der Ausbau der Stromnetze die Nachfrage nach Kupfer verdoppeln dürfte. Ein schnelles Nachfragewachstum sieht die IEA bei Lithium, Kobalt, Nickel und Grafit – mit dem stärksten Wachstum bei Kupfer.

    (Quelle: IEA, World Energy Outlook 2021) Materialbedarf für «saubere Energie»

    Gefährdung des Netto-Null-Ziels bis 2050
    Bei der Fotovoltaik spielen die Materialkosten für Silizium, Silber und Kupfer eine grosse Rolle. Bei Windturbinen dominieren neben dem Beton für das Fundament in der Regel Stahl, Kupfer, Zink und Seltene Erden (für den Bau der Permanentmagneten in den Synchrongeneratoren).

    Allein im Jahr 2020 verzeichneten diese Rohstoffe massive Preissteigerungen zwischen 50 und 150%. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, wären nach Schätzung der IEA zusätzliche USD 700 Mrd. für den Ausbau der erneuerbaren Energietechnologien nötig.  Ganz anders die Kernenergie: Auch bei einem massiven Ausbau der heutigen Produktion bleibt der Bedarf an kritischen Rohstoffen bescheiden. 

    Die Folgerung der IEA ist also klar: Je grüner, desto nuklearer.

    Henrique Schneider

    Vorheriger ArtikelKlimaschutz in der Praxis
    Nächster ArtikelMusik und Handwerk- Feingefühl pur